Die Sonne steht schon über den hohen Bergen an diesem Frühlingsmorgen. Auf der etwas höher gelegenen Stelle bietet sich ein herrlicher Ausblick auf die darunterliegende sanfte wellige Landschaft. Jeder Wellenkamm unterscheidet sich von den anderen. Auf den einen stehen einzelne Bauernhöfe oder kleinere Siedlungen, umgeben von blühenden Sträuchern. Andere «Wellen» sind überzogen mit Feldern in saftigem Grün mit gelbem Löwenzahn und die vereinzelten Bäume mit den noch jungen zarten Blättern heben sich hell ab von der dunkleren Landschaft. Schmale Strassen winden sich durch all diese sanften Hügel.
Über dem See liegt noch leichter Dunst, der seine Mehrarmigkeit nur vage erkennen lässt. Seine Oberfläche glitzert im Sonnenlicht. Die Menschen kommen von weit her für eine Schifffahrt oder um an seinem Ufer zu verweilen.
Ein frühlingshafter Duft liegt in der Luft und aus den Feldern und dem nahen Wald ist emsiges Treiben und vielfältiges Gezwitscher der vielzähligen Vogelschar zu vernehmen, begleitet vom melodiereichen Gesang einer Amsel. Ab und zu ganz nahe kommend gleitet in grossen Schleifen ein Rotmilan über die Hügelkuppen.
Es ist ein strahlender Morgen, voll intensiver Schönheit, und das leistungsstarke Auto, das zu einem der Häuser fährt, gehört irgendwie auch dazu.
Es scheint eine aussergewöhnliche Ordnung zu herrschen, aber wir Menschen leben in (innerer) Unordnung. Für uns haben Lebewesen und Gegenstände nur eine flüchtige Bedeutung, nur eine oberflächliche Beziehung. Wir spalten das Leben denkerisch auf in Ich und Du, Wir und die Anderen, in Familie und Gemeinschaft, Familie und Nation, Familie und Büro, in Politik und Spiritualität, in Genügsamkeit und Materialismus, Frieden und Konflikt, Vergnügen und Abneigung, Ethik und Fortschritt, Moral und Ausschweifung, Kongruenz und Widerspruch, Leben und Tod, Kopf und Herz – eine endlose Aufspaltung in Gegensätze. Diesen Korridor der Gegensätze gehen wir entlang und versuchen, Kopf und Herz in Harmonie zu bringen oder zwischen Liebe und Angst ein Gleichgewicht zu wahren. Wir kennen das alles nur zu gut, und wir versuchen, daraus irgendeine Art Einklang herzustellen. Die ganze Kette der Widersprüchlichkeit zieht sich unsichtbar von Mensch zu Mensch. Frühling, Sommer, Herbst und Winter zerbrechen diese Kette nie.
Der unvereinbare Gegensatz zwischen Glauben und Wirklichkeit
Der Klang der Kirchenglocken dringt durch den Wald und über die tieferliegenden Wiesen vom Tal herauf, getragen vom leichten Wind. Der Ton verändert sich, je nachdem ob er durch den Wald oder über die offenen Wiesen kommt. Klang bringt wie Licht eine innere Stille mit sich. In dieser Stille ist es, als höre man Glockenklang zum ersten Mal. Keine Wolke ist am Himmel an diesem Spätsommerabend hoch über dem Tal und die Sonne steht dicht über den Bergen im Westen.
Wir lauschen fast nie still dem Klang eines Hundebellens oder dem Lachen des Bauern vom Hof etwas unterhalb oder der Klingel am Fahrrad des kleinen Mädchens, das draussen spielt. Wir trennen uns von allem ab, und aus dieser Isolation schauen und hören wir dann allen Dingen zu. Diese Abtrennung ist so zerstörend, denn darin haben alle Konflikte und Verwirrungen ihren Ursprung.
Würden Sie dem Klang der Glocken vollkommen still zuhören, würde der Klang Sie über das Tal und über den Berg tragen. Die Schönheit des Klanges wird nur empfunden, wenn Sie und der Klang nicht getrennt sind, wenn Sie und er eine Einheit sind, wenn einfach nur Klingen ist. Das ist Meditation. Meditation ist das Ende der Abtrennung, die aber nicht durch irgendeinen (vorübergehenden) Akt des Willens oder Verlangens endet oder durch die Anwendung einer bestimmten Technik. Meditation ist keine Angelegenheit, die vom Leben getrennt ist. Sie ist nicht etwas Abgesondertes. Sie ist das wahre Wesen des Lebens, das wahre Wesen des Daseins, das wahre Lebendigsein. Meditation eröffnet das ganze Leben und ist nicht ein Bruchstück davon.
«Was ist Gott für Sie? In der modernen Welt sehe ich nichts Göttliches – weder unter den Schülern, den Arbeitern oder den Politikern. Und für die Priester ist es ein bequemer Begriff, der ihnen ermöglicht, ihre privilegierte Stellung sowie ihre eigenen materiellen und spirituellen Interessen zu bewahren. Und der Durchschnittsmensch? – Ich glaube nicht, dass ihn Gott sehr interessiert, ausser vielleicht gelegentlich, wenn er in einer Schwierigkeit steckt, bei der Taufe eines Kindes, bei der Hochzeit, wenn er sich den Anschein der Ehrbarkeit geben möchte oder wenn er sonst wie einen heuchlerischen, ichbezogenen Nutzen daraus ziehen kann. Ansonsten hat Gott eine extrem geringe Bedeutung. Mich würde interessieren von Ihnen zu hören, was Sie glauben oder ob Gott in Ihrem Leben eine Rolle spielt. Ich bin schon an vielen Orten gewesen und habe verschiedene Lehrer aufgesucht. Sie alle glauben oder behaupten mehr oder weniger, dass es etwas Göttliches, ein Jenseits, ein Paradies gibt. Und sie zeigen auch alle einen Weg zu ihm. Ich würde gerne mit Ihnen über diese Frage sprechen.»
Glaube ist eine Sache, Wirklichkeit eine andere. Die eine führt in die Gefangenschaft, die andere ist nur in Freiheit möglich. Zwischen den beiden besteht keine Verbindung. Aus dem Glauben heraus ist diese Freiheit nicht erreichbar. Freiheit ist keine Belohnung, die am Ende eines Weges auf einem wartet. Es ist von Anfang an sehr wichtig, dass Sie dies verstehen: Der unvereinbare Gegensatz zwischen Glauben und Wirklichkeit. Glaube kann nie zur Wirklichkeit führen. Glaube ist das Resultat von Konditionierung über Generationen hinweg oder eine Folge der Angst, oder die Folge einer äusseren oder inneren Autorität, die vielleicht (vorübergehend) Trost spendet. Wirklichkeit ist nichts Derartiges. Sie ist einfach. Es gibt keinen Übergang vom Glauben zur Wirklichkeit. Der Theologe, Mönch oder spirituelle Meister hat einen Standpunkt. Er glaubt an Gott, an einen Erlöser, an Jesus, an Krishna oder an Buddha. Die Theorien dazu beruhen auf Konditionierung und dem Studium der überlieferten Schriften. Und die Gewandtheit seines Denkens ermöglicht ihm dem Ganzen noch einen zeitgenössischen Anstrich zu geben. Er ist, wie der politische Ideologe, an ein Konzept, ein Denksystem gebunden, und was er ersinnt, ist das Ergebnis seiner Konditionierung.
Einfach dasitzen

Ich sitze auf einer Bank. Nach einiger Zeit kommt ein Wanderer vorbei:
«Sie sitzen hier und geniessen wohl die schöne Aussicht?»
«Nein, ich sitze einfach da.»
«Dann freuen Sie sich bestimmt ob dem schönen Wetter?»
«Nein, ich sitze einfach da.»
«Ach so, Sie sind in Gedanken versunken, wie?»
«Nein, ich sitze einfach da.»
«Aha. Sie meditieren also?»
«Nein, ich sitze einfach da.»
«Oder warten Sie auf jemanden?»
«Nein, ich sitze einfach da.»
«Oh, ich sehe schon, Sie wollen Ihre Ruhe haben.»
«Nein, ich sitze einfach da.»
Wie soll man Sein erklären? Das Beste ist, es gar nicht erst zu versuchen. Es ist unmöglich. Es ist, wie es ist – jenseits der Worte. Bleibe einfach still. Im Inneren ist man vollkommen leer, und dennoch ist man voller Friede und Glück. Aber sie können das nicht sehen.
Der Wald

Ich bin die Wärme deines Ofens
in kalten Winternächten.
Ich bin der schirmende Schatten,
wenn des Sommers Sonne brennt.
Ich bin der Dachstuhl deines Hauses
und das Brett deines Tisches.
Ich bin das Bett, in dem du schläfst.
Ich bin das Holz,
aus dem du deine Schiffe baust.
Ich bin der Stiel deines Spatens
und die Türe deiner Wohnung.
Ich bin das Holz deiner Wiege
und deines Sarges.
Ich gebe dir die Luft,
die du atmest
und das Wasser,
das deinen Durst löscht
Ich bin und gebe alles einfach so –
ich kann nicht anders –
es ist meine Natur.
Kennst du deine Natur?
