Der unvereinbare Gegensatz zwischen Glauben und Wirklichkeit

Der Klang der Kirchenglocken dringt durch den Wald und über die tieferliegenden Wiesen vom Tal herauf, getragen vom leichten Wind. Der Ton verändert sich, je nachdem ob er durch den Wald oder über die offenen Wiesen kommt. Klang bringt wie Licht eine innere Stille mit sich. In dieser Stille ist es, als höre man Glockenklang zum ersten Mal. Keine Wolke ist am Himmel an diesem Spätsommerabend hoch über dem Tal und die Sonne steht dicht über den Bergen im Westen.
Wir lauschen fast nie still dem Klang eines Hundebellens oder dem Lachen des Bauern vom Hof etwas unterhalb oder der Klingel am Fahrrad des kleinen Mädchens, das draussen spielt. Wir trennen uns von allem ab, und aus dieser Isolation schauen und hören wir dann allen Dingen zu. Diese Abtrennung ist so zerstörend, denn darin haben alle Konflikte und Verwirrungen ihren Ursprung.
Würden Sie dem Klang der Glocken vollkommen still zuhören, würde der Klang Sie über das Tal und über den Berg tragen. Die Schönheit des Klanges wird nur empfunden, wenn Sie und der Klang nicht getrennt sind, wenn Sie und er eine Einheit sind, wenn einfach nur Klingen ist. Das ist Meditation. Meditation ist das Ende der Abtrennung, die aber nicht durch irgendeinen (vorübergehenden) Akt des Willens oder Verlangens endet oder durch die Anwendung einer bestimmten Technik. Meditation ist keine Angelegenheit, die vom Leben getrennt ist. Sie ist nicht etwas Abgesondertes. Sie ist das wahre Wesen des Lebens, das wahre Wesen des Daseins, das wahre Lebendigsein. Meditation eröffnet das ganze Leben und ist nicht ein Bruchstück davon.

«Was ist Gott für Sie? In der modernen Welt sehe ich nichts Göttliches – weder unter den Schülern, den Arbeitern oder den Politikern. Und für die Priester ist es ein bequemer Begriff, der ihnen ermöglicht, ihre privilegierte Stellung sowie ihre eigenen materiellen und spirituellen Interessen zu bewahren. Und der Durchschnittsmensch? – Ich glaube nicht, dass ihn Gott sehr interessiert, ausser vielleicht gelegentlich, wenn er in einer Schwierigkeit steckt, bei der Taufe eines Kindes, bei der Hochzeit, wenn er sich den Anschein der Ehrbarkeit geben möchte oder wenn er sonst wie einen heuchlerischen, ichbezogenen Nutzen daraus ziehen kann. Ansonsten hat Gott eine extrem geringe Bedeutung. Mich würde interessieren von Ihnen zu hören, was Sie glauben oder ob Gott in Ihrem Leben eine Rolle spielt. Ich bin schon an vielen Orten gewesen und habe verschiedene Lehrer aufgesucht. Sie alle glauben oder behaupten mehr oder weniger, dass es etwas Göttliches, ein Jenseits, ein Paradies gibt. Und sie zeigen auch alle einen Weg zu ihm. Ich würde gerne mit Ihnen über diese Frage sprechen.»

Glaube ist eine Sache, Wirklichkeit eine andere. Die eine führt in die Gefangenschaft, die andere ist nur in Freiheit möglich. Zwischen den beiden besteht keine Verbindung. Aus dem Glauben heraus ist diese Freiheit nicht erreichbar. Freiheit ist keine Belohnung, die am Ende eines Weges auf einem wartet. Es ist von Anfang an sehr wichtig, dass Sie dies verstehen: Der unvereinbare Gegensatz zwischen Glauben und Wirklichkeit. Glaube kann nie zur Wirklichkeit führen. Glaube ist das Resultat von Konditionierung über Generationen hinweg oder eine Folge der Angst, oder die Folge einer äusseren oder inneren Autorität, die vielleicht (vorübergehend) Trost spendet. Wirklichkeit ist nichts Derartiges. Sie ist einfach. Es gibt keinen Übergang vom Glauben zur Wirklichkeit. Der Theologe, Mönch oder spirituelle Meister hat einen Standpunkt. Er glaubt an Gott, an einen Erlöser, an Jesus, an Krishna oder an Buddha. Die Theorien dazu beruhen auf Konditionierung und dem Studium der überlieferten Schriften. Und die Gewandtheit seines Denkens ermöglicht ihm dem Ganzen noch einen zeitgenössischen Anstrich zu geben. Er ist, wie der politische Ideologe, an ein Konzept, ein Denksystem gebunden, und was er ersinnt, ist das Ergebnis seiner Konditionierung.

Die Unbedachten glauben – gemäss ihrer eigenen Konditionierung – daran und bleiben darin hängen, so wie sich die unvorsichtige Fliege in einem Spinnennetz verfängt. Glaube wird aus der Angst geboren oder entstammt der Tradition und Überlieferung. Mehrere tausend Jahre andauernde Propaganda bilden das religiöse Gerüst der Worte und der dazugehörenden Rituale, Dogmen und Glaubensvorstellungen. So werden die Worte extrem wichtig und die andauernde Wiederholung der Worte hypnotisiert den Leichtgläubigen. Die Leichtgläubigen sind immer willig zu glauben, zu akzeptieren und zu gehorchen, ganz gleich ob das, was gesagt wird, gut oder schlecht, richtig oder falsch ist. Der Geist, der glaubt, ist kein Geist, der untersucht oder forscht, und daher bleibt er innerhalb der Grenzen der Regeln. Es ist wie bei einem Tier, das an einen Pfahl angebunden ist und sich nur so weit bewegen kann, wie der Strick dies zulässt.

«Aber ohne einen Glauben haben wir ja nichts mehr! Ich glaube an das Gute. Ich glaube an den heiligen Stand der Ehe. Ich glaube an das Jenseits und an das fortwährende Wachsen bis zur Vollendung. Für mich ist das, was ich glaube, ungeheuer wichtig, es gibt mir Sicherheit und hält mich im Zaum, im Rahmen der Moral. Wenn Sie mir den Glauben wegnehmen, bin ich hilflos und verloren.»

Gut sein und gut werden sind zwei verschiedene Dinge. Gut sein ist kein Gutwerden. Gut werden ist das Ablehnen des Guten. Besser werden verneint das, was ist. Das Besser verdirbt das, was ist. Gut sein ist jetzt, in der Gegenwart. Gut werden findet in der Zukunft statt, die eine Erfindung oder Vorstellung des Geistes ist, der in einem Glauben gefangen ist, oder in einer Methode, die Vergleichen und Zeit beinhaltet. Wenn gemessen und bewertet wird, erlischt das Gute.
Was Sie glauben und was für Methoden, Grundsätze, Dogmen und Meinungen Sie haben, ist nicht wichtig. Wichtig ist zu verstehen, weshalb Sie all das überhaupt haben, weshalb Ihr Geist damit belastet ist. Sind diese Dinge unbedingt notwendig? Wenn Sie diese Frage selbst ernsthaft untersuchen, dann werden Sie entdecken, dass sie aus Angst oder aus Gewohnheit Dinge einfach akzeptieren. Es ist diese grundlegende Angst, die Sie daran hindert, sich auf das, was ist, einzulassen. Es ist diese Angst, die zu Festlegungen führt. In etwas eingebunden zu sein ist natürlich. Sie sind in das Leben eingebunden und in Ihre Aktivitäten. Sie befinden sich mitten im Leben, mitten in seinem gesamten Ablauf. Sich aber auf etwas festzulegen ist das Vorgehen eines Verstandes, der in Fragmenten, in Bruchstücken denkt und arbeitet. Das Denken arbeitet immer bruchstückhaft, ist nie ganzheitlich, und wirkt deshalb begrenzend, einengend und trennend.

«Ja, man kann sich nicht festlegen, ohne das zu benennen, auf das man sich festlegt, und dieses Benennen ist eine Begrenzung. Das verstehe ich.»

Ist Ihre Feststellung nur eine Sammlung von Worten, oder ist sie eine Tatsache, die Sie jetzt erkennen? Wenn es nur eine Sammlung von Worten ist, dann ist es ein Glaube und hat daher keinerlei Wert. Wenn es aber eine wirkliche Wahrheit ist, die Sie jetzt entdecken, dann sind Sie frei und im Zustand des Verneinens. Das Verneinen des Unwahren ist keine Feststellung. Jegliche Propaganda ist unwahr. Doch der Mensch baut auf die Propaganda, seit tausenden von Jahren.

«Mit Ihren Erkenntnissen drängen Sie mich in eine Ecke. Sie verbreiten, was Sie sehen – ist das nicht auch eine Art Propaganda?»

Sicher nicht. Wie kann das, was ist Propaganda sein? Sie drängen sich selbst in eine Ecke. Sie müssen sich selbst den Tatsachen stellen, wie sie sind, ohne Überredung oder Beeinflussung. Dadurch beginnen Sie selbst zu erkennen, was tatsächlich ist. Dann sind Sie unabhängig von anderen und frei von jeder Autorität – von der Autorität der Gedanken, der Worte, der Personen, der Ideen. Um sehen zu können, ist kein Glaube erforderlich. Im Gegenteil, das Fehlen eines Glaubens ist erforderlich, um überhaupt sehen zu können. Sie können nur sehen, wenn ein Zustand des Verneinens besteht und nicht die Bejahung, die Übernahme eines Glaubens. Sehen ist ein verneinender Zustand, in dem allein das Was ist deutlich sichtbar ist. Es darf kein Glaube vorhanden sein, wenn man die Wahrheit dessen, was ist, sehen will. Politiker, Priester, ehrbare Leute funktionieren immer den Regeln entsprechend und drängen oder zwingen die anderen nach diesen Regeln zu leben. Und die Unbedachten und Dummen sind immer von ihren Worten, ihren Versprechungen und den Hoffnungen, die sie wecken, geblendet. Die Autorität der Regeln wird so wichtiger als die Liebe zu dem, was ist. Deshalb ist Autorität lebensfeindlich, ganz gleich, ob es die Autorität des Glaubens, der Tradition oder einer Moral ist.

«Kann ich von dieser Angst frei sein?»

Stellen Sie nicht eine falsche Frage? Sie sind die Angst, Sie und Ihre Angst sind nicht zwei voneinander getrennte Dinge. Angst entsteht durch die Trennung, die wiederrum eine Vorgehensweise ausbrütet: «Ich werde sie besiegen, ihr entfliehen, gegen sie ankämpfen.» Das ist die traditionelle Vorgehensweise, die eine falsche Hoffnung nährt, dass die Angst überwunden werden kann. Wenn Sie sehen, dass Sie und die Angst nicht zwei voneinander getrennte Dinge sind, dann verschwindet die Angst. Dann sind Methoden, Rezepte und Glaubensvorstellungen bedeutungslos. Dann leben Sie nur mit dem, was ist, und sehen, dass das die Wahrheit ist.

«Aber die Frage nach Gott haben Sie damit noch nicht beantwortet, oder?»

Gehen Sie an irgendeinen Ort, an dem Gott angebetet und verehrt wird. Ist Gott dort zu finden? In den Worten, in den Ritualen, in den Symbolen, in den Gefühlen, die geweckt werden? Die Religionen zerteilen Gott, in Ihren Gott und in meinen Gott, in die Gottheiten des Ostens und des Westens – und jeder Gott bringt den anderen Gott um. Wo ist Gott zu finden? Unter einem Stein, im Himmel, in Ihrem Herzen, oder ist er nur ein Wort, ein Symbol, das etwas repräsentiert, das man nicht in Worte fassen kann oder soll? Sie müssen alles ausser Acht lassen, das Symbol, den Ort der Andacht und das Geflecht der Worte. Nur wenn Sie das tun, können Sie untersuchen, ob es eine Wirklichkeit ist oder nicht.

«Aber wenn man all das fallen lässt, ist man doch völlig hilflos, verloren, leer, allein – wie kann man in diesem Zustand untersuchen?»

Bemitleiden Sie nicht sich selbst? Selbstmitleid ist etwas Abscheuliches. Sie befinden sich in diesem Zustand, weil Sie das Falsche nicht wirklich als das Falsche sehen. Wenn Sie das sehen, gibt Ihnen das die Freiheit, die Wahrheit als solche zu erkennen. Aber das ist keine Erfahrung, keine persönliche Leistung oder Errungenschaft. Alle derartigen Dinge bringen ein trennend wirkendes, widersprüchliches Gebilde hervor – das Ich. Und dieses Gebilde verlangt in Form des Denkers nach weiteren Erfahrungen. Aber all das ist nicht die Wahrheit. Wahrheit gehört weder Ihnen noch mir. Was persönlich ist, lässt sich institutionalisieren und instrumentalisieren, als Heiligtum bewahren und ausbeuten. Das ist das, was in der Welt geschieht. Aber die Wahrheit kann nicht institutionalisiert werden. Wie Schönheit und Liebe ist Wahrheit nicht im Reich der Besitztümer zu finden.